Verloren in der Routine? Finden Sie mit Ikigai den Sinn im Leben und Beruf

Haben Sie sich schon einmal überlegt, warum Sie für Ihre Firma arbeiten, weshalb Sie Menschen führen? Geht es Ihnen darum, die Karriereleiter hochzusteigen oder einen gewissen Status zu erreichen? Geht es Ihnen um Macht oder Prestige? Oder geht es Ihnen darum, etwas zu bewegen, Menschen zu fördern, Ihre Organisation oder sich selbst zu entwickeln? Was bedeutet für Sie Sinnhaftigkeit im Leben und im Beruf?

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Wofür stehen Sie jeden Morgen auf?

Unser Wohlbefinden hängt nach den Erkenntnissen der Positiven Psychologie von verschiedenen Faktoren ab. Gemäss der amerikanischen Psychologin Carol Ryff ist neben der Selbst-Akzeptanz, Autonomie, Selbstwirksamkeit, positiven Beziehungen sowie dem persönlichen Wachstum der Sinn im Leben von essenzieller Bedeutung für unsere Zufriedenheit.

In meinen Coachings beobachte ich immer wieder, dass Erfolg, Geld oder Ansehen nur Krücken von begrenzter Kraft sind, welche die Sinnlosigkeit des eigenen Tuns auf längere Sicht nicht stützen können. Wir können zwar über eine gewisse Zeit einem gut bezahlten Job nachgehen, erfolgreich sein und ein grosses Ansehen geniessen. Sinn jedoch ist etwas so Tiefliegendes, dass er zum Problem wird, wenn er uns verloren gegangen ist. Die Folgen kennen wir nur allzu gut: Wenn unsere Tätigkeit uns wenig sinnvoll erscheint und wir das Gefühl haben, nichts zu bewegen, wird uns dies langfristig auszehren oder sogar krank machen. Wenn Mitarbeitende keinen Sinn in ihrer Arbeit sehen, müssen sie bewegt, manipuliert, „motiviert” oder gar gezwungen werden, damit sie ihr Soll erfüllen.

Sinn in der Arbeit kommt uns hauptsächlich dann abhanden, wenn wir unsere Fähigkeiten, Talente oder Ideen trotz Mühe und Einsatz nicht verwirklichen können. Der Sinn geht uns auch verloren, wenn wir im sozialen Beziehungsgeflecht nicht das Gefühl der Annahme spüren.

Wir Menschen benötigen ein „Warum“. Unserem Leben und Tun einen tieferen Sinn zu schenken, ist eine der grössten Herausforderungen. Und gleichzeitig ist das Finden der Sinnhaftigkeit unseres Tuns eine der wichtigsten Fragen, die wir uns selbst stellen sollten.

Dünger im Gehirn

Die Bedeutung der Sinnfrage kann neurologisch erklärt werden: Wenn für uns etwas sinnhaft und wichtig ist, dann strengen wir uns an, um es zu erreichen. Wenn wir uns so richtig für etwas begeistern können, wenn uns etwas „unter die Haut geht“, werden im Mittelhirn Nervenzellen angeregt. Gemäss dem Neurobiologen Gerald Hüther empfinden wir Menschen immer dann einen Zustand der Sinnhaftigkeit und des Glücks, wenn wir einen inkohärenten Zustand durch eigene Anstrengung in einen kohärenten Zustand verwandeln können. Unser Gehirn strebt diesen Zustand ständig an, um Energie freizusetzen. Im Mittelhirn werden dann neuroplastische Botenstoffe wie Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin sowie Peptide wie Endomorphine und Enkephaline ausgeschüttet, die einen rauschähnlichen Zustand bewirken. Diese Hirnregionen werden auch Belohnungszentren genannt. Diese lösen auf die eine oder andere Weise in den nachgeschalteten Nervenzellen biochemische Prozesse aus. Mit der Zeit werden all jene neuronalen Netze verstärkt, die im Gehirn aktiviert worden sind. Damit kann genau das zustande gebracht werden, was uns am Herzen liegt und uns in den wunderbaren Zustand der Begeisterung versetzt. Nur wenn wir für etwas brennen, werden all jene Netzwerke ausgebaut und verbessert, welche wir im Zustand der Euphorie nutzen. Ein Kleinkind erlebt diesen Zustand mehrfach am Tag, während es neue Dinge ausprobiert. Jeder kleine Begeisterungssturm beim Ausprobieren führt dazu, dass in seinem Gehirn eine Art Giesskanne mit Dünger ausgeschüttet wird, der für alle Entwicklungsprozesse von neuronalen Netzwerken gebraucht wird.

Sein Ikigai finden

Ein überzeugendes und hilfreiches Konzept der Sinnfindung ist das japanische Prinzip „Ikigai“. Ikigai kombiniert die Begriffe „iki“ (Leben/lebend) und „gai“ (Vorteil/Wert) zum Gesamtbegriff „das, was unserem Leben Wert und Sinn gibt“. Gemäss dem Neurowissenschaftler und Autor Ken Mogi ist Ikigai ein altes, traditionelles Konzept der Japaner, das umschrieben werden kann als „ein Grund, morgens aufzustehen“. Das Konzept soll aus den Gesundheitsprinzipien der traditionellen japanischen Medizin hervorgegangen sein. Die vier zentralen Fragen im Ikigai-Modell sind:

  • Was liebe ich? (Begeisterung)
  • Was mache ich gut? (Talent)
  • Wofür werde ich bezahlt? (Wert)
  • Was braucht die Welt? (Bedarf)

Dimension 1: Was machen Sie gerne?

Diese Dimension geht der Frage nach, was Ihnen grösste Freude im Leben bringt: Welche Vorlieben haben Sie? Welche Aktivitäten machen Sie gerne? Wann fühlen Sie sich in Ihrem Element beziehungsweise am lebendigsten? Lesen Sie gerne Romane? Sind Sie eine leidenschaftliche Kletterin oder Musikerin? Ist Kochen Ihre Leidenschaft? Sind Sie gerne mit Menschen zusammen? Wichtig ist bei dieser Dimension, dass Sie sich erlauben, vertieft darüber nachzudenken, was Sie wirklich lieben, ohne sich Gedanken zu machen, worin Sie gut sind, ob die Welt es braucht oder ob Sie dafür bezahlt werden.

Dimension 2: Worin sind Sie gut?

Diese Sphäre umfasst alles, was Sie besonders gut können, also Stärken oder auch Talente: Worin sind Sie richtig gut? Was können Sie besser als andere? Was geht Ihnen leicht von der Hand? Sind Sie besonders sportlich oder musikalisch? Können Sie gut zuhören oder vor Publikum sprechen? Fällt es Ihnen leicht, komplexe mathematische Rechnung zu lösen, komplizierte Rechtsfragen zu bearbeiten oder Konzepte zu schreiben? Diese Dimension umfasst Fähigkeiten und Talente, ungeachtet dessen, ob Sie eine Leidenschaft dafür haben oder nicht, ob die Welt sie braucht und ob Sie damit Geld verdienen.

Dimension 3: Was die Welt braucht

Bei dieser Dimension geht es darum, was die Welt braucht und womit Sie einen Beitrag leisten können. Die „Welt“ kann dabei die Gesellschaft als Ganzes bedeuten oder eine Gemeinschaft, zu der Sie in Beziehung stehen. Zu den Bedürfnissen der Welt könnten zum Beispiel eine intakte Natur, sauberes Wasser, eine verbesserte Ausbildung junger Menschen oder –  bezogen auf die Gemeinschaft Ihrer Partnerschaft oder Familie – Sicherheit und Geborgenheit sein. Diese Dimension verbindet Sie mit anderen Menschen, für die Sie über Ihre eigenen Bedürfnisse hinaus Gutes tun.

Dimension 4: Wofür Sie bezahlt werden

Der vierte Kreis bezieht sich darauf, wofür die Welt beziehungsweise andere Menschen bereit sind, Sie zu bezahlen. Sie können zwar eine leidenschaftliche Tennisspielerin sein, aber das heisst noch lange nicht, dass Sie damit Geld verdienen können wie Serena Williams oder Roger Federer. Ob Sie mit Ihren Talenten oder Leidenschaften Geld verdienen können oder nicht, hängt oftmals von äusseren Rahmenbedingungen wie Trends, der Wirtschaftslage generell oder Nachfrage ab.

Gemäss Ikigai entsteht aus der Schnittmenge dessen, was Sie gerne tun und was Sie gut können, Ihre Leidenschaft. Dort, wo sich das, was Sie gerne tun und was die Welt braucht vereint, liegt Ihre Mission. Aus der Schnittmenge Ihrer Fähigkeiten und Talente und wofür Sie bezahlt werden, entsteht Ihr Beruf. Und an der Schnittstelle dessen, was die Welt braucht und wofür Sie bezahlt werden, ist Ihre Berufung. Die Schnittmenge aller vier Bereiche ist das Ikigai – der Idealzustand. Er steht für den Sinn des Lebens. Wenn es Ihnen gelingt, Ihre Leidenschaft, Mission, Berufung und Ihren Beruf zu vereinen, folgen Glück und Zufriedenheit. Dann haben Sie Ihr Ikigai gefunden. So wie die Menschen auf der Insel Okinawa, wo Ikigai seinen Ursprung haben soll. Dort leben viele der ältesten Menschen der Welt.

Das Konzept des Ikigai besagt darüber hinaus, dass jede und jeder von uns ein Ikigai hat. Es geht nur darum, dieses zu finden. Dazu braucht es Zeit und Raum für Selbstreflexion.

Lesen Sie mehr zum Thema „Sinnhaftigkeit“ in meinem neuen Buch „Menschlichkeit in der Führung“.