Die Kraft positiver Beziehungen – sind Sie ein Energieräuber oder -spender?

Ein Unternehmen kann noch so viele talentierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen, sie können erst außergewöhnliche Leistungen erbringen, wenn sie gute Beziehungen zueinander pflegen. In der Positiven Psychologie wird die produktive Energie, die aus positiven Beziehungen entsteht, als sogenannte „Relationale Energie“ bezeichnet. Diese macht nicht nur die Arbeit für alle angenehmer, sondern auch die gesamte Organisation effektiver.

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Positive Beziehungen sind wichtig für das Energiemanagement in Unternehmen

Gemäß dem amerikanischen Organisationspsychologen Kim Cameron, der den Positive Leadership Ansatz bekannt gemacht hat, sind Beziehungen sehr wichtig für das Energiemanagement. Er unterscheidet zwischen Personen, die Energie geben („Energizers“), und solchen, die Energie rauben („De-Energizers“). Er hat zusammen mit anderen Forscher:innen in verschiedenen Organisationen Befragungen bei Mitarbeitenden durchgeführt, um zu messen, inwiefern sie durch das Verhalten anderer energetisiert werden oder nicht. In ihrer Studie fanden sie fünf Items bzw. Fragestellungen, um die positive Energie einer Person zu messen:

  1. Ich fühle mich gestärkt, wenn ich mit dieser Person Kontakt habe.
  2. Nach einem persönlichen Kontakt mit dieser Person habe ich mehr Energie, um meine Arbeit zu erledigen.
  3. Ich fühle mich vitaler, wenn ich mit dieser Person in Kontakt bin.
  4. Ich würde mich an diese Person wenden, wenn ich Aufmunterung benötige.
  5. Nach einem persönlichen Kontakt mit dieser Person habe ich mehr Ausdauer, um meine Arbeit zu erledigen.

Bestimmt haben Sie selbst bereits mehrfach am eigenen Leib erfahren, dass es Menschen gibt, die Ihnen Energie geben und auch positive Energien in die Organisation einspeisen, während andere Menschen Ihnen und anderen beständig den Saft abdrehen.

Noch heute erinnere ich mich an folgendes Erlebnis aus meiner eigenen beruflichen Vergangenheit: Ich arbeitete in jungen Jahren als Teilprojektleiterin in einem anspruchsvollen IT-Projekt. Wir waren als Dreier-Team zuständig für das Customizing einer Human Resources Software. Unsere Vorgesetzte plante und kontrollierte minutiös jeden unserer Arbeitsschritte. Sie rief uns sogar aus ihren Ferien täglich an, um sicher zu gehen, dass wir die Deadlines einhielten. Sie selbst gönnte sich kaum eine Kaffeepause und gab uns mit ihrem vorwurfsvollen Blick jeweils zu verstehen, dass sie es nicht wirklich schätzte, wenn wir eine Pause machten. Als die Lebenspartnerin unseres Teamkollegen schwer erkrankte und per Notfall ins Spital musste, informierte er unsere Vorgesetzte, dass er in der Folgewoche zu Hause bleiben müsse, um sich um das gemeinsame Kind zu kümmern. Unsere Vorgesetzte reagierte emotionslos und kalt: „Du kannst schon zu Hause bleiben. Sieh aber zu, dass du das Projekt nicht gefährdest!“ Mit dieser Reaktion sank der ohnehin schon tiefe Energielevel in unserem Team auf den Nullpunkt. Hätte unsere Vorgesetzte in dieser Situation verständnisvoll und menschlich gegenüber unserem Arbeitskollegen reagiert, wäre unser Energielevel erheblich größer gewesen und wir hätten mit Motivation und Schwung die Arbeiten unseres Kollegen während seiner Abwesenheit übernommen.

Energiespender oder Energieräuber?

Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit und denken Sie an all die Menschen, mit denen Sie zusammenarbeiten: welche geben Ihnen Energie und welche rauben Ihnen Energie? Und wenn Sie sich selbst im Führungsverhalten aufrichtig reflektieren: spenden Sie Ihren Mitarbeitenden Energie oder saugen Sie ihnen Energie ab?

Folgende Attribute sind gemäß Cameron typisch für Energiespender bzw. -räuber:

Energiespender

  • sehen Möglichkeiten und Chancen
  • sind Problemlöser
  • helfen anderen, zu wachsen und sich zu entwickeln
  • sind vertrauenswürdig und integer
  • sind verlässlich
  • nutzen eine vielfältige Sprache
  • sind aufmerksam und engagiert
  • sind echt und authentisch
  • sind dankbar und menschlich

Energieräuber

  • sehen mehrheitlich Probleme und Hindernisse
  • haben Mühe damit, wenn andere besser sind
  • kritisieren andere und zeigen kaum Wertschätzung
  • sind unflexibel in ihrem Denken
  • sind Wichtigtuer und Selbstdarsteller
  • sind meistens sachlich und förmlich
  • sind oberflächlich und wenig authentisch
  • halten Abmachungen nicht ein
  • sorgen sich wenig um andere

Erkennen Sie sich und andere wieder?

Es kann immer sein, dass sich zwei Personen nicht sympathisch sind oder sich nicht riechen können. Das ist menschlich. Dabei muss es sich bei diesen Menschen nicht automatisch um Energieräuber handeln. Wenn jedoch viele Mitarbeitende in einer Organisationseinheit eine bestimmte Person als besonders energetisierend oder de-energetisierend erleben, haben wir es mit einer neuralgischen Stelle bezüglich organisationaler Energie zu tun: durch gezielte Personalentwicklungsmaßnahmen (z. B. Coaching einer de-energetisierenden Führungsperson oder Übertragung von mehr Führungsverantwortung an eine energetisierende Person) kann der Energielevel in einer Organisation positiv beeinflusst oder gar gestärkt werden.

Als Führungskraft können Sie den Energielevel maßgeblich beeinflussen

In den Studien konnte ebenfalls aufgezeigt werden, dass Führungskräfte den größten Einfluss auf das Energielevel einer Organisation besitzen. Es gehört zu einer der anspruchsvollsten und bedeutungsvolleren Aufgaben für Sie als Führungskraft, die eigene Energie sowie die Energie Ihrer Mitarbeitenden richtig zu orchestrieren. Wenn Sie die Fähigkeit haben, Ihre Mitarbeitenden zu energetisieren, haben Sie dadurch eine positive Wirkung auf deren Wohlbefinden, Zufriedenheit und schlussendlich auf deren Engagement und Leistung.

Obwohl wir Menschen keine Maschinen sind, bringt es die Analogie zum Akku bildlich auf den Punkt: Als Führungskraft haben Sie die enorme Wirkungskraft und Macht, die Akkus der Menschen um Sie herum relativ schnell durch Ihr de-energetisierendes Verhalten zu entleeren. Oder Sie können den Akku Ihrer Mitarbeitenden mit Ihrem energiespendenden Verhalten aufladen und durch Ihr Vorbildverhalten dafür sorgen, dass Ihre Mitarbeitenden wiederum andere Mitarbeitende im Unternehmen energetisieren.

Dabei gilt das Schneeballprinzip: Je höher in der Hierarchie Sie stehen, desto größer ist der Bereich des organisationalen Netzwerks, das durch Sie geladen bzw. entladen wird. Stellen Sie sich einmal vor, wie viele Begegnungen Sie an einem durchschnittlichen Arbeitstag haben, seien sie kurz und flüchtig (z. B. Smalltalk) oder ausgedehnt und intensiv (z. B. in einem Meeting). Nun stellen Sie sich all Ihre Begegnungen mit Ihren Mitarbeitenden sowie Arbeitskolleginnen und -kollegen vor – über einen Tag, eine Woche, einen Monat, ein Jahr hinweg … Jede einzelne Ihrer Begegnungen mag zwar winzig erscheinen, aber in der Summe haben sie einen großen Einfluss in Ihrer Organisation. Deshalb lohnt es sich, darüber nachzudenken: Möchten Sie lieber eine Führungskraft sein, die Energie gibt oder die Energie raubt? Sie haben die Wahl.

Lesen Sie mehr zum Thema „Führung und Energiemanagement“ in meinem neuen Buch „Menschlichkeit in der Führung“.