Beim eigenen Gedankenspiel tauchen bei mir zwei unterschiedliche Bilder von Führungskräften auf:
Dunkle, elegante Kleidung, eine gewisse Kühle, ein ernster Blick, die Arme verschränkt, um Macht und Unnahbarkeit auszudrücken. Bei diesem Bild kommt mir unverzüglich James Bond in den Sinn, der sich für eine grössere Sache einsetzt und dabei unzählige Menschenleben auf dem Gewissen hat. Er zeigt sich galant und charmant, bisweilen einnehmend. Doch mit jemandem in Beziehung zu treten, Wertschätzung, Emotionen oder gar Schwächen zu zeigen, gehören nicht zu seinem Repertoire. Und weil er sehr eitel ist, sitzt seine Frisur immer perfekt. Nachdem er seine jeweiligen Gegenspieler ausgeschaltet hat, zieht er sich sofort die Krawatte zurecht. Perfektionismus, Macht, Stärke und Unnahbarkeit pur. Medien und Gesellschaft haben im Verlauf der Jahre dieses Bild vom „tough guy“, der stark und unversehrt ist, bedient. Und oftmals ertappen wir uns dabei, dass sich dieses Leader-Bild über all die Jahre ganz unbewusst in unseren Köpfen eingebrannt hat: Sich menschlich und nahbar zu zeigen ist etwas für Feiglinge! Seit dem Film „Skyfall“ besteht jedoch Hoffnung: Irgendwie flackern da hin und wieder erste Anzeichen von Menschlichkeit der britischen Kultfigur über die Leinwand und Bond zeigt sich emotional und macht sogar Fehler.
Und da ist auf der anderen Seite das Bild der neuseeländischen Premierministerin Jacinda Ardern, die in den Medien immer wieder als vorbildhafte Führungsperson portraitiert wird. Sie wird weltweit dafür bewundert, wie sie Neuseeland mit Empathie und Klarheit durch mehrere Krisen führte. Ein Beispiel, das um die Welt ging, war ihre Reaktion auf das Attentat von Christchurch im Jahr 2019, als ein Attentäter in zwei Moscheen rund 50 Menschen tötete. Die Premierministerin zeigte öffentlich Empathie und gleichzeitig setzte sie sich für eine massive Verschärfung der Waffenrechte ein. In der Coronakrise schuf sie durch ihr Mitgefühl und Augenhöhe eine Beziehung zur Bevölkerung und zeigte gleichzeitig Klarheit und Entschiedenheit in der Umsetzung der harten Massnahmen. Eine neuseeländische Zeitung schrieb, dass sie als Frau und Premierministerin der ganzen Welt ein typisch „feminines Verhalten“ gezeigt und bewiesen habe, wie stark dies sein kann.
Menschlichkeit als Erfolgsfaktor
Der Begriff „Menschlichkeit“ im Kontext von Führung hat Konjunktur. In jüngster Zeit hören und lesen wir vermehrt, dass Menschlichkeit als Gegenstück zur zunehmenden Digitalisierung und angesichts der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit unserer Welt immer wichtiger wird. Die Arbeitswelt und insbesondere die Führung müsse menschlicher werden, heisst es. Und sehr viele von uns nicken und stimmen dem zu, ohne jedoch bewusst darüber nachzudenken, was menschliche Führung konkret bedeutet. So gut wie jede und jeder von uns versteht etwas anderes darunter: Die einen nehmen die Organisation in den Blick und sehen darin den Abbau von Hierarchien und Kontrollmechanismen. Andere verstehen unter menschlicher Führung, dass Führungskräfte verständnisvoller und empathischer mit ihren Mitarbeitenden umgehen müssen. Oftmals wird mit „Menschlichkeit“ typisch weibliches Verhalten assoziiert. Ich denke jedoch nicht, dass menschliche Führung einem Geschlecht zugeschrieben werden kann. Ich habe in meiner langjährigen Berufstätigkeit als Linienverantwortliche und als Beraterin ebenso menschliche, empathische Männer erlebt wie auch gefühllose, unmenschliche Frauen.
Menschlichkeit ist ein Urbedürfnis. Sie manifestiert sich darin, Fehler zu machen, sich Hilfe zu holen. Menschlichkeit macht nahbar. In einem Unternehmen führt sie dazu, dass sich die Mitarbeitenden von der Führungskraft mitgenommen fühlen. Alle sitzen gemeinsam im Boot, auch die Führungskraft. Warum ist das so wichtig? Weil die Menschen einen Grossteil ihres Lebens im Büro, im Konzern, im Unternehmen verbringen und dort nur gute Leistung bringen können, wenn sie sich auch wohlfühlen. Wenn eine Krise einbricht oder Veränderungen anstehen, ist Menschlichkeit umso mehr gefordert. Die Mitarbeitenden fühlen sich ernst genommen und arbeiten motivierter. Sie sind eher bereit, das Paddel in die Hand zu nehmen, um das Boot, in dem sie alle gemeinsam sitzen, durch die stürmische See zu steuern.
Legen Sie den imaginären Panzer ab!
Einfacher gesagt als getan: Die meisten Führungskräfte umgeben sich mit einem dicken Schutzpanzer und haben nicht den Mut, diesen abzulegen. Jeden Morgen bei Betreten des Arbeitsplatzes legen sie diesen imaginären Panzer an, aus Angst vor Blösse und Kritik. Wie ein Ritter, der mit seiner Rüstung und schützendem Schild auf das Schlachtfeld zieht. In Führungsetagen und Managementsitzungen wird strengstens darauf geachtet, eine vermeintlich professionelle Fassade aufrecht zu erhalten.
Unsere Angst vor Blösse und Kritik resultiert bereits aus der Erziehung. Sicherlich haben auch Sie von Ihren Eltern schon einmal Sätze gehört wie: „Was sollen die anderen denken?“ oder „Du sollst doch einen guten Eindruck machen!“ Bereits in der Kindheit wurde vielen von uns gesagt, wir sollen keine Schwäche zeigen. Daraus ist mit der Zeit eine Art Automatismus entstanden: sich schützen zu müssen und seine Unsicherheit und Gefühle möglichst zurückzuhalten. Unsere Bilder von erfolgreichen Führungskräften sind noch heute geprägt von Heldengeschichten. Medien und Gesellschaft haben im Verlauf der Jahre dieses Bild von Stärke und Unversehrtheit bedient. Und oftmals ertappen wir uns selbst dabei, dass sich dieses Bild in unseren Köpfen eingebrannt hat: Emotionen und Schwächen zeigen, Fehler machen und Verlieren sei etwas für Feiglinge.
Aber: wer menschlich behandelt werden möchte, muss bereit sein, seinen Panzer abzulegen und Menschlichkeit zu zeigen!
Einer meiner Coaching-Kunden hat von seinen direkten Unterstellten das Feedback erhalten, dass er von den Mitarbeitenden an der Basis als ‚gefühlloser Hardliner‘ wahrgenommen wird, der sich nicht für ihre Anliegen und Probleme interessiert und die Mitarbeitenden ‚auspresst wie eine Zitrone‘ – so der Tenor. Im Coaching erklärte er mir jedoch, dass er sich grosse Sorgen um die Zukunft des Unternehmens und insbesondere um seine Führungskräfte und Mitarbeitenden mache – dass es für ihn nicht einfach sei, den Spardruck, welcher in der Branche vorherrscht, im Unternehmen durchzusetzen. Die Bedürfnisse und Probleme seiner Mitarbeitenden lagen ihm sehr wohl am Herzen, er hatte es bisher jedoch nie gezeigt und auch nicht ausgesprochen. Ich ermunterte meinen Coachee, die Maske abzulegen und sich menschlich zu zeigen: Er könnte aufzeigen, dass er mit den gegebenen Rahmenbedingungen der Branche zu kämpfen hat und ihn diese vor eine grosse Herausforderung stellen. Er könnte zugeben, dass das Unternehmen unter hohem Druck steht und es aktuell keine andere Lösung gibt, als Sparmassnahmen zu ergreifen. Und er könnte aufrichtig zugeben, dass dies auch für ihn nicht einfach ist und dass er auf das Verständnis seiner Mitarbeitenden für die aktuelle Situation zählt. Klarheit, Aufrichtigkeit und Menschlichkeit zeigen – all das führt zu einem Commitment der Mitarbeitenden. Eine bröckelnde Fassade aufrecht zu erhalten, ist nicht der richtige Weg.
Es ist an der Zeit für einen Paradigmenwechsel
Die Märkte bewegen sich dynamischer denn je. Das Tempo zieht an und die Anforderungen anUnternehmen werden stetig anspruchsvoller. Führungskräfte müssen heute viele Risiken eingehen und das in kurzer Zeit. Und genau an dieser Stelle passieren Fehler. Deshalb müssen wir uns von dem Gedanken lösen, alles sei planbar, sicher und beständig. Es ist an der Zeit für einen Paradigmenwechsel. Wer als Führungspersönlichkeit erfolgreich sein möchte und ernst genommen werden will, muss sich menschlich zeigen und zu seinen Fehlern stehen. Auch muss eine Führungskraft bereit sein, eine Stufe zurückzugehen, wenn der Anstieg plötzlich zu steil wird. Führungskräfte müssen zeigen können, dass sie in der Krise nicht allwissend und unfehlbar sind. Schnelligkeit, Digitalisierung und die neue Generation an Mitarbeitenden – diese drei Hebel werden das Erfordernis von Menschlichkeit in der Zukunft noch weiter vorantreiben.
Wie kann ich als Führungskraft Menschlichkeit im Führungsalltag umsetzen und leben?
Dazu braucht es zunächst den Willen und das Verständnis zur Veränderung. Und wie in diesen herausfordernden, schnellen Zeiten nicht anders möglich, gilt hier das Credo: einfach machen! Das oberste Management ist besonders gefordert, echte Menschlichkeit in der Kommunikation zu zeigen: in der Krise die eigene Betroffenheit unterstreichen und notwendige Massnahmen nicht einfach nüchtern und kühl verlauten lassen. Natürlich müssen in schweren Zeiten Stellen gekürzt und teilweise harte Entscheide getroffen werden – die Art und Weise der Kommunikation darüber hat jedoch Einfluss auf deren Wahrnehmung. Menschlichkeit in der Kommunikation beeinflusst das Image und die Arbeitgebermarke und stärkt den Impact sowie das Commitment der Mitarbeitenden. Menschlichkeit auf allen Führungsebenen hat nichts zu tun mit einer Weichspüler-Management-Kultur. Menschlichkeit unterstützt das ‚hard business‘, in dem die KPIs und Zahlen stimmen müssen. Diese Ziele sollen und müssen nicht heruntergekurbelt werden. Aber der Weg dorthin ist ein anderer. Er ist menschlicher.
Es ist an der Zeit, zu erkennen, dass echtes Leadership nur dort stattfindet, wo Vision, Werte und Identität nachhaltig und nah an den Menschen verhandelt, vermittelt und gelebt werden. Die Führungskompetenz der Zukunft umfasst neben der fachlichen Expertise herausragende persönliche Integrität, Empathie und ethische Standfestigkeit sowie Kommunikationsstärke.