Was ist fair?
Ist es fair, dass Ihre Arbeitskollegin mehr verdient als Sie? Sprechen wir von Fairness, wenn Ihren Arbeitskolleginnen und -kollegen in einer Reorganisation gekündigt wird und Ihnen nicht? Ist es fair, wenn Sie Überstunden machen, und Ihre Vorgesetzte geht Punkt 17h nach Hause?
„Was ist fair?“ Das werde ich in meiner Beratungstätigkeit oder in Leadership Trainings oft gefragt. Und dann ergibt sich oftmals eine heftige Debatte, weil die einen davon überzeugt sind, dass alle gleichbehandelt werden müssen – und die anderen, dass Unterschiede durchaus gerechtfertigt sind.
Fairness – dieser englische Begriff hat sich in unserem Wortgebrauch eingebürgert und ist dennoch durch seine Vielseitigkeit und Vieldeutigkeit charakterisiert. In der deutschen Sprache wird Fairness mit dem Begriff „Gerechtigkeit“ gleichgesetzt und beschreibt ein ehrliches, anständiges und regelkonformes Verhalten. Gerade im Sport wird Fairness sehr grossgeschrieben. Wenn dann bei einem Foul auf dem Fussballfeld die rote Karte gezogen wird, sind die Konsequenzen für die Zuwiderhandlung gegen die Regeln klar, und doch reagieren die Spielerinnen und Spieler und Zuschauerinnen und Zuschauer sehr kontrovers darüber.
Fairness als universelles Bedürfnis und vielschichtiges Phänomen
Das Gefühl von Fairness oder Unfairness haben wir alle in irgendeiner Art und Weise bereits erfahren. Aus unserer Arbeitspraxis wie aus der Forschung wissen wir, dass die Qualität der Zusammenarbeit, Motivation und Leistungsbereitschaft sehr stark davon abhängt, wie fair wir uns behandelt fühlen. Gerechtigkeit ist zwar ein universelles Bedürfnis. Was als Recht oder Unrecht wahrgenommen wird, variiert jedoch zwischen den verschiedenen Kulturen, Kontexten wie auch Individuen.
Die Vorstellungen von Gerechtigkeit gehen auch in Unternehmen sehr stark auseinander. Dies manifestiert sich oftmals sehr stark, wenn über Lohngerechtigkeit diskutiert wird. Die einen basieren in der Diskussion über Fairness auf dem Individualprinzip im Sinne von «Jedem das Seine», andere auf dem Gleichheitsprinzip im Sinne von «eder und jedem das Gleiche». Andere verstehen unter Gerechtigkeit das Nutzenprinzip, das heisst, „der grösstmögliche Nutzen für die grösstmögliche Zahl“.
Fairness ist ein sehr vielschichtiges Phänomen. Dieses lässt sich anhand folgender Dimensionen besser erfassen.
Dimensionen der Fairness
Fairness beziehungsweise Gerechtigkeit kann in vier verschiedene Ausprägungen differenziert werden:
Distributive Fairness
Die Distributive Fairness umfasst die Arbeitsverteilung und Belohnung entsprechend der Erfahrung, Anstrengung und Leistung der Mitarbeitenden. Eine Verteilung wird dann als fair wahrgenommen, wenn das Verhältnis der eigenen Anstrengung (z. B. meine Leistung) zum Ergebnis (z. B. Lohn oder Wertschätzung) dem entspricht, was relevante Bezugs- beziehungsweise Vergleichspersonen erreichen. Dann spricht man von relativer Fairness. Ein weiterer nennenswerter Aspekt der fairen Verteilung ist die Norm der absoluten Gleichheit (absolute Fairness). In der Arbeitspraxis wird beim Lohn in der Regel eine Kombination von relativer und absoluter Gleichheit angewendet. Bei der Distributiven Fairness geht es auch um den Ausgleich zwischen Vor- und Nachteilen, von Pflichten und Rechten und von Lasten und Entlastungen. Dabei sind Verhältnismässigkeit, Zumutbarkeit und Erforderlichkeit massgebend. In der Unternehmenspraxis ist es zum Beispiel fair, dass Lernende weniger leisten als erfahrene Mitarbeitende. Dieser Ebene kann auch die Chancengleichheit zugeordnet werden, das heisst die Gleichheit in Bezug auf Lebens-, Zugangs- und Verwirklichungschancen von Menschen.
Prozedurale Fairness
Diese Dimension der Fairness kann als die «Fairness des Entscheidungsverfahrens» bezeichnet werden. Sie umfasst die unternehmensinterne Organisation und die Prozesse. Sie soll sicherstellen, dass interne Abläufe nicht willkürlich stattfinden, sondern klar geregelt sind. Regeln sollen für alle gleichermassen gelten. Sie sollen unter fairer Beteiligung transparent zustande kommen und können von allen Betroffenen nachvollzogen und eingehalten werden. Ausnahmen von der Regel sind gestattet, wenn sie Unfairness verhindern. Einige Beispiele aus der Unternehmenspraxis: Mitarbeitende mit schulpflichtigen Kindern haben Priorität bei der Ferienplanung, da sie auf die Schulferien Rücksicht nehmen müssen. Leistungsbeurteilungen sind dann fair, wenn die Beurteilungskriterien vorher definiert wurden, realistisch sind und für alle gleichermassen gelten. Eine Konfliktlösung wird dann als fair betrachtet, wenn alle ihren Standpunkt einbringen können.
Informationale Fairness
Die informationale Fairness umfasst den transparenten und nachvollziehbaren Umgang mit Informationen und wird dann als hoch eingeschätzt, wenn den Betroffenen alle relevanten Informationen zur Verfügung gestellt werden. Entscheidungen sind transparent und nachvollziehbar, wenn Mitarbeitende wissen, warum etwas geschieht. Dabei sind qualitative Aspekte wie der Umgangston, die Verständlichkeit und die Nachvollziehbarkeit wichtige Faktoren.
Interpersonale Fairness
Diese Dimension der Fairness bezieht sich auf zwischenmenschliches Verhalten. Sie zeigt sich durch einen respektvollen, freundlichen und wertschätzenden Umgang: Wie fair ist das Miteinander? Sind Kommunikation und Interaktion zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden gerecht? Werden die verschiedenen Interessen und Meinungen berücksichtigt und einbezogen? Die interpersonale Fairness beinhaltet auch Fairplay, das heisst die gegenseitige Rücksichtnahme. Diese schliesst ein, dass eigene Rechte und erlangte Vorteile nicht missbraucht werden. Zur interpersonalen Fairness gehören auch die Fürsorge für andere, das Aufgreifen von Sorgen und Ängsten der Betroffenen und die Vermittlung von Verständnis und Unterstützung.
In den Studien von Colquitt und Rodell (2011) konnte nachgewiesen werden, dass gelebte Fairness dazu beiträgt, einen Rahmen innerhalb eines Teams oder einer Organisation zu schaffen, mit dem sich Mitarbeitende identifizieren können. Fairness leistet einen wichtigen Beitrag zu einer identitätsstiftenden Team- beziehungsweise Unternehmenskultur. Demgegenüber kann geringe oder fehlende Fairness zu einer Vielzahl von negativen Auswirkungen wie zum Beispiel höheren Fehlzeiten, gesteigertem Stresserleben, Widerstand gegenüber Veränderungen, Hilflosigkeit, emotionaler Rückzug oder sogar zu Sabotage oder Aggression führen.
Fairness im Unternehmen
Fairness ist eine der wirksamsten Massnahmen, um Vertrauen zu fördern. Zudem hat Fairness einen positiven Effekt auf die Zufriedenheit, die affektive Bindung, die Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit.
Als Führungskraft sind Sie deshalb gefordert, immer wieder darüber zu reflektieren, inwiefern Sie Fairness in Ihrem Führungsalltag leben. Dabei können Ihnen die eben erwähnten Dimensionen helfen. Ein hilfreicher Ausgangspunkt ist dabei immer das eigene Empfinden: Was verstehen Sie persönlich unter Fairness? Wann fühlen Sie sich gerecht oder ungerecht behandelt? Wie reagieren Sie in solchen Situationen? Was ist Ihnen wichtig?
Fairness am Arbeitsplatz wird oftmals sehr individuell und subjektiv wahrgenommen. Fairness lässt sich auch nicht top down diktieren. Es lohnt sich deshalb, das Thema Fairness im Team zu thematisieren und zu klären. Dabei können Ihnen folgende Leitfragen helfen:
- Gibt es objektive Vorgaben, Gesetze, Reglemente, Vereinbarungen, Standards?
- Welchen Ermessensspielraum haben Sie beziehungsweise das Team?
- Wie ist der Betroffenheitsgrad der Involvierten?
- Wie muss der Entscheidungsprozess ablaufen?
- Wie können alle Interessen berücksichtigt beziehungsweise alle Betroffenen ein- bezogen werden oder zumindest zu Wort kommen?
- Wie können Sie Ihre Entscheidung, das Vorgehen, Verhalten etc. plausibel begründen?
Fairness und der gelebte Alltag
Im Führungs- und Arbeitsalltag ist es erfahrungsgemäss oftmals so, dass die idealen Rahmenbedingungen für absolute Fairness nicht gegeben sind. Führung bedeutet unter dem Aspekt der Gerechtigkeit häufig auch, mit Enttäuschungen und fehlgeschlagenen Hoffnungen der Mitarbeitenden umgehen zu können. Vielleicht können Sie jemanden nicht befördern, weil es aktuell keine entsprechende Position gibt. Oder sie können kein besseres Salär bezahlen, weil das Budget ausgeschöpft ist. In diesem Sinne können Sie die individuell wahrgenommene distributive Fairness nicht erfüllen. Wichtig ist in solchen Situationen, dass Sie rechtzeitig, offen und ehrlich informieren (informelle Fairness) und erläutern, wie und warum dieser Entscheid zustande gekommen ist (prozedurale Fairness). Ebenso gilt es darauf zu achten, dass sich der betroffene Mitarbeitende respektvoll behandelt fühlt (interpersonale Fairness). Fairness zeigt sich insbesondere auch durch Loyalität Ihren Mitarbeitenden gegenüber, zum Beispiel dadurch, ob und wie Sie für Ihre Mitarbeitenden einstehen: Wie verhalten Sie sich, wenn sich eine Kundin über eine Mitarbeiterin beschwert? Stehen Sie für die Mitarbeiterin ein und besprechen den Sachverhalt dann in einer vertraulichen, ruhigen Umgebung? Engagement für Ihre Mitarbeitenden gegen Aussen bedeutet nicht, dass Sie intern keine Auseinandersetzungen führen, wenn ein Fehler passiert ist oder die Leistung nicht erbracht wurde. Es geht jedoch darum, dass Ihre Mitarbeitenden vor Kunden oder anderen Kolleginnen und Kollegen nicht das Gesicht verlieren.
Wenn Sie für eine Mitarbeiterin nicht mehr einstehen können, weil zuviel vorgefallen ist, kann es sinnvoll und fair sein, das Arbeitsverhältnis auf eine anständige Art zu beenden. Eine faire Trennung ist menschlicher als eine Weiterarbeit unter Misstrauen. Fairness zeigt sich auch, wenn Mitarbeitende ein Unternehmen verlassen wollen oder müssen: Bleiben Sie auch in solchen Situationen bis zum Ende fair. Die anderen Mitarbeitenden im Team werden sehr genau beobachten, wie Sie mit der ausscheidenden Kollegin oder dem Kollegen umgehen.
Wenn Sie als Führungskraft als Vorbild vorangehen und die Prinzipien der Fairness in Ihrem Führungsalltag leben, bilden Sie ein wichtiges Fundament für Vertrauen.
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