Authentizität – oberflächlicher Glanz oder notwendiger Tiefgang?

In unserer heutigen Gesellschaft spricht jeder und jede darüber. Alle möchten authentisch sein oder wirken. Für viele Menschen ist dies sogar ein Lebensideal. Doch keiner weiss genau, was Authentizität überhaupt bedeutet und wie sie entsteht. Wie ist Authentizität greifbar als Verhaltensmerkmal? Und ist authentisch sein überhaupt erstrebenswert und realistisch angesichts der Tatsache, dass wir tagtäglich verschiedene Rollen wahrnehmen und Erwartungen erfüllen müssen, sei es im Beruf, in der Partnerschaft, als Eltern, Freunde und im Sportclub? Authentizität spielt in sozialen Beziehungen, insbesondere in der Kommunikation und beim erfolgreichen Führen von Menschen eine wichtige Rolle. Es lohnt sich deshalb, sich über die eigene Authentizität Gedanken zu machen.

Das Streben nach Authentizität geht bereits zurück in die Antike. Der Drang zur Selbsterkenntnis gehörte schon immer zum Menschsein. Kaum ein Attribut wird heute so oft erwähnt und im Internet als Begriff gesucht. Allein in Google finden sich mehrere Millionen Einträge zum Suchbegriff «authentisch». Aber wie lautet die genaue Definition des Begriffs? Was bedeutet es, «authentisch» zu sein? Wer ist es und wer nicht?

Echt sein, selbst sein

Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit, Unverfälschtheit, Original und Echtheit werden oftmals als Synonyme verwendet. Am treffendsten erscheint die etymologische Betrachtung des Begriffs: Authentizität stammt vom griechischen Wort «authentikós» ab. «Autos» bedeutet dabei «selbst» und «ontos» heisst übersetzt «sein» – selbst sein. Authentische Menschen sind sie selbst, stehen zu sich selbst.

Die beiden Sozialpsychologen Michael Kernis und Briand Goldman haben basierend auf ihren Studien vier Kriterien herausdifferenziert, welche authentische Menschen ausmachen (Michael H. Kernis, Brian M. Goldman: A multicomponent conceptualization of authenticity. Theory and research, 2006):

Bewusstsein

Authentizität beginnt bei uns selbst. Erste Voraussetzung ist, dass wir unsere Bedürfnisse, Werte, Gefühle sowie auch unsere Stärken und Schwächen kennen und reflektieren. Weshalb verhalten wir uns in gewissen Situationen so und nicht anders? Erst durch bewusste Selbstreflexion erkennen wir unser Verhalten und können dieses bei Bedarf beeinflussen. Es lohnt sich deshalb, für sich herauszufinden, was uns als Menschen ausmacht.

Ehrlichkeit zu sich selbst

Wenn wir ehrlich sein möchten, müssen wir den Tatsachen ins Gesicht schauen, d.h. auch unsere Makel anerkennen. Da hilft auch, Feedback von anderen einzuholen und zu akzeptieren, auch wenn es schwerfällt. Nobody is perfect.

Konsequenz

Wenn wir unsere Bedürfnisse, Werte und unsere Gefühle kennen, sollten wir uns auch nach diesen richten und danach handeln. Authentischen Menschen stehen zu ihren persönlichen Überzeugungen und verteidigen diese auch gegen Widerstand. Wer immer nur sein Fähnchen nach dem Wind hängt, wirkt verlogen und opportunistisch. Authentisch sind wir erst dann, wenn unser Fühlen, Denken, Sprechen und Handeln kongruent sind.

Aufrichtigkeit gegenüber anderen

Authentische Menschen sind bereit, anderen ihr wahres Gesicht offen zu zeigen, mit seinen positiven wie auch negativen Seiten. Oft ist es ausserhalb der eigenen vier Wände, insbesondere im Berufsleben, nicht einfach. Es braucht Mut, authentisch zu sein.

Heute verführen Facebook, Instagram, LinkedIn & Co. sowie auch Apps wie Photoshop, uns visuell aufzupeppen oder unser Berufs- und Privatleben aufregender darzustellen, als es in Tat und Wahrheit ist. Wo setzen wir die Grenze zwischen Selbstmarketing und Selbstdarstellung? Wo zeigen wir eine Fassade und wo zeigen wir uns wirklich echt? Das kann jede und jeder nur für sich selber beantworten. Sein statt Schein.
 

Kritiker sehen jedoch auch Gefahren im Bestreben nach Authentizität. Einerseits geben sie zu Bedenken, dass absolute Selbst-Transparenz einerseits selbstherrlich und andererseits gar nicht möglich ist. Andere sehen in der permanenten Selbstreflexion die Gefahr, sich selbst zu täuschen. Zudem dürfe das Streben nach Authentizität nicht zum Selbstzweck werden, um schädliches Fehlverhalten zu rechtfertigen. Ein egoistischer, narzisstischer Mensch bleibt ein Ekel, ob er nun authentisch ist oder nicht. Damit wir nicht Gefahr laufen in schonungslose, verletzende Offenheit oder naive Redseligkeit zu verfallen, sind weitere Tugenden wie eine konstruktive Haltung, diplomatisches Geschick und Taktgefühl ebenso wichtig.

Zudem hält es sich mit der Authentizität wie mit dem Glück: je mehr man versucht, sie an sich zu reissen, desto mehr entzieht sie sich uns. Authentizität lässt sich auch nicht mit ein paar Selbstmanagement- oder Führungstrainings auf die Schnelle aneignen. Authentizität ist das Ergebnis jahrelanger persönlicher Entwicklung. Gemäss dem radikalen Konstruktivismus ist Authentizität ein Selbstkonstrukt. Das heisst, der Moment des Empfindens von Authentizität beginnt bei uns selbst. Unsere Persönlichkeit ist kein zementierter Zustand, sondern wir optimieren im Verlauf unseres Lebens dieses Selbstkonstrukt immer wieder und entwickeln uns so weiter.