Wertschätzung als Grundbedürfnis
Als emotionale Wesen wollen wir Menschen einerseits Zuwendung und Anerkennung bekommen und andererseits auch weitergeben. Wir fühlen uns gut, wenn wir Wertschätzung erfahren und wenn wir andere wertschätzen. Wertschätzung ist die Voraussetzung für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls. Mangelnde Wertschätzung hingegen kann negative Folgen haben: Je nach Situation und Persönlichkeit kann jemand aufgrund fehlender Wertschätzung Aggressionen entwickeln und zeigen. Oftmals reagieren wir jedoch im Verlaufe der Zeit leise und nach innen gerichtet: Psychische Störungen, Burnout, Suchterkrankungen wie auch Konflikte in der Familie, in der Partnerschaft und im beruflichen Umfeld können durch fehlende Wertschätzung ausgelöst werden.
Stufen der Wertschätzung
Es ist nicht einfach, den uns geläufigen Begriff der Wertschätzung treffend zu umschreiben. Vielleicht liegt dies daran, dass wir ihn inflationär verwenden oder weil wir uns kaum Gedanken darüber machen, was wertschätzendes Verhalten konkret bedeutet. Reinhard Haller ordnet in seinem Buch „Wunder der Wertschätzung“ die Wertschätzung in einem siebenstufigen Modell gut nachvollziehbar ein:
Stufe 1: Aufmerksamkeit
Wertschätzung basiert immer auf Aufmerksamkeit, sei es für unsere Umwelt, eine spezifische Situation oder für Menschen. Nichts kann kränkender wirken als fehlende Aufmerksamkeit oder Nichtbeachtung. Einige Menschen unternehmen sehr viel, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie äußern sich zum Beispiel provozierend oder kleiden sich auffallend, um von anderen gesehen zu werden. Aufmerksamkeit kann sich nach außen richten, auf Ereignisse, Dinge oder Personen. Sie kann aber auch nach innen gerichtet sein auf die eigenen Bedürfnisse und Emotionen. Echte Aufmerksamkeit führt zu mehr Klarheit und Verbesserung der zwischenmenschlichen Interaktion.
Stufe 2: Achtsamkeit
Eine Stufe höher anzusiedeln ist die Achtsamkeit. Achtsamkeit, weitläufig bekannt als „mindfulness“, umfasst das bewusste Lenken unserer Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick. Achtsamkeit ist eine Form der Aufmerksamkeit, welche auf unser Inneres gerichtet ist und eine akzeptierende Haltung uns selbst gegenüber beinhaltet. Sie hilft uns, unseres Innenlebens gewahr zu werden. Während im buddhistischen Sinne das wertfreie Betrachten der eigenen Wahrnehmung betont wird, betont die Psychologie das bewusste Innehalten zwischen Wahrnehmung und Reaktion. Das Gegenstück zur Achtsamkeit ist Unachtsamkeit oder Gedankenlosigkeit. Besonders in der heutigen reizüberfluteten Zeit besteht die Gefahr, dass wir unachtsam und gedankenlos werden.
Stufe 3: Respekt/Achtung
Wenn wir achtsam mit uns und unserem Gegenüber umgehen, können wir auch den Wert der anderen würdigen. Respekt beziehungsweise Achtung kann sich auf die Würde des Menschen, auf seine Werte und seinen Lebensentwurf, einzelne Eigenschaften oder auch auf seine Rechte beziehen. Respekt setzt Toleranz voraus, das heißt das Dulden fremder Werte, Meinungen und Lebensformen. Ohne Aufmerksamkeit und Achtsamkeit ist eine respektvolle Haltung sowie ein entsprechender Umgang mit anderen nicht möglich. Auf der Beziehungsebene ist Respekt ein wichtiger regulierender Faktor, der unberechenbares Verhalten reduzieren und eine achtsame Kommunikation ermöglichen kann. Respektloses Verhalten hingegen kann zu Konflikten führen, verärgern oder kränken. Eine der destruktivsten Formen von Respektlosigkeit ist die Verachtung.
Stufe 4: Anerkennung
Die nächste Stufe beinhaltet die Anerkennung als positive Rückmeldung. Diese kann sich auf einzelne Leistungen oder besondere Ereignisse beziehen. Anerkennung ist neutraler und distanzierter als Wertschätzung. Wenn Sie als Führungskraft die Leistung Ihrer Mitarbeitenden anerkennen, indem Sie ihnen eine gute Beurteilung geben, heißt dies noch lange nicht, dass Sie Ihren Mitarbeitenden Wertschätzung entgegenbringen.
Stufe 5: Wertschätzung
Auf der fünften Stufe kommt die eigentliche Wertschätzung zum Tragen. Wertschätzung beinhaltet alle vorhergehenden Stufen: Wenn wir aufmerksam und achtsam sind, uns anderen gegenüber respektvoll zeigen und Anerkennung geben, zeigen wir ein wertschätzendes Verhalten. Wobei Wertschätzung wohlwollender und ganzheitlicher ist als Anerkennung. Wertschätzung umfasst den Menschen in seiner Gesamtheit mit all seinen Eigenschaften ungeachtet der Leistung.
Stufe 7: Vertrauen
Vertrauen als Gefühl der Echtheit von Denken, Fühlen und Handeln gegenüber anderen Menschen ist von großer Bedeutung für uns. Vertrauen verpflichtet und bindet. Vertrauen ist keine Stetigkeitserwartung, sondern eine bewusste Entscheidung, die wir fällen. Je unruhiger und agiler Arbeitsverhältnisse in Unternehmen werden, desto wichtiger wird Vertrauen, das die Menschen zusammenarbeiten lässt und zusammenhält. In unserer heutigen digitalisierten und vernetzen Arbeitswelt werden Kooperation und Kollaboration immer wichtiger. Vertrauen ist das Band, das alles zusammenhält. Es ist das unerlässliche „Schmieröl“ einer Organisation.
Stufe 6: Liebe
Die Liebe stellt die höchste und reinste Form der Wertschätzung dar. Bei der Liebe handelt es sich um eines der komplexesten Phänomene. Sie kann eine romantische partnerschaftliche und sexuelle Ebene, aber auch eine Ebene der Fürsorge und Bindung haben. Liebe ist mehr als Wertschätzung. Ohne Wertschätzung ist Liebe nicht möglich.
Die große Bedeutung der Wertschätzung wird heute insbesondere durch die Erkenntnisse der Hirnforschung unterstrichen. Echte Wertschätzung kann wahre Wunder bewirken: Sie aktiviert unser Belohnungszentrum im Gehirn und hemmt das Angstzentrum. Sie bewirkt, dass in unserem Gehirn der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet wird und das körpereigene Oxytocin ansteigt, welches zu einem Glücksempfinden führt – in kürzester Zeit entfalten sich Kreativität, Motivation und Beziehungsfähigkeit. Wenn dies nachhaltig geschieht, kann dies sogar die Persönlichkeit positiv verändern. Durch Wertschätzung können wir andere stark machen und dabei selbst stärker werden – denn jede Geste echter Wertschätzung wird mit vielen Gesten der Wertschätzung beantwortet werden. Andere Menschen zeigen sich uns gegenüber viel freundlicher und zugänglicher, wenn wir Wertschätzung zeigen.
Was hat Wertschätzung mit menschlicher Führung zu tun? Wertschätzung ist sehr wichtig für eine gesunde, positive Beziehung zwischen Ihnen als Führungskraft und Ihren Mitarbeitenden. Die Bereitschaft und Fähigkeit, sich Zeit für Wertschätzung der Mitarbeitenden zu nehmen, ist einer der effektivsten Einflussfaktoren auf die Profitabilität von Unternehmen.
Lesen Sie mehr zum Thema Wertschätzung in meinem neuen Buch „Menschlichkeit in der Führung“.